Nach Russland zu reisen, war nicht ganz so einfach. Vermutlich auch, weil mir erst eine Woche vor dem Aufbruch nach Estland eingefallen ist, dass ich dafür einen Reisepass brauche. Und ein Visum – aber das kann man umgehen, wenn man per Boot nach St. Petersburg fährt und dort nur 72h bleibt. Blöd nur, dass der einzige Boottrip von unserem Erasmus-Reiseanbieter abgesagt wurde, weil sich zu wenig Menschen dafür angemeldet haben.
Der Bürokratiemarathon hat sich dann doch gelohnt und den vorläufigen Reisepass konnte mir die deutsche Botschaft noch am gleichen Tag geben. In meinem russischen Visum steht statt “Sonja” “COHЯ”. Um wenigstens ein paar Straßennamen entziffern zu können und nicht verloren zu gehen, habe ich also ein bisschen Kyrillisch gelernt. Meine Mitbewohnerin hatte Russisch in der Schule und war eine gute Lehrerin. Die meiste Zeit der 8-stündigen Busfahrt habe ich damit verbracht, russische Straßenschilder und Werbung zu entziffern und die Ausssprache zu trainieren. Es hat sich gelohnt. Nicht nur englische Markennamen wie “Subways” oder “Mc Donalds” wurden einfach nur ins Kyrillische übetragen, auch “Raiffeisenbank” oder sogar “Butterbrot”. “Steak House” klingt übersetzt dann mehr wie “Steak Chaus”.
Überdimensional
In den Supermärkten und Restaurants brauchte ich dann doch die englischen Übersetzungen. Merkwürdigster kulinarischer Fund: Geröstete Brotwürfel mit Sülze-Geschmack! Da ist mir estnisches Knoblauchbrot lieber. Bester kulinarischer Fund: Im russischen Schnellimbiss gibt es Pfannkuchen – Blini – in allen Variationen. Und statt Cola wird einem als erstes Tee angeboten.
Verlaufen habe ich mich dank meinen neuen Dekodierungsversuchen nicht. Aber etwas verloren gefühlt, weil alles riesig ist. Auf St. Petersburgs breiten Straßen, zwischen den Häuserzeilen und auf dem Fluss Neva. Sich auf dem Platz vor dem Winterpalast mit jemandem zu treffen ist fast unmöglich, selbst wenn er wie jetzt im Herbst eher leer ist. Ein gutes Beispiel für die Dimensionen bietet auch das Museum im Winterpalast. Die kleine Garderobe bietet Platz für 1700 Mäntel und Jacken, die große für mehr als 4.000. Drei Mal stellten wir uns an einem Tresen der großen Garderobe an und mussten wieder gehen, weil kein Platz mehr frei war. Um jedes Ausstellungsstück dieses gigantischen Museums nur eine halbe Minute anzusehen, müsste man 11 Jahre dort verbringen.
Selbst die Metrostationen in St. Petersburg sind extravagant. Die meisten, weil sie zu Sowjetzeiten erbaut wurden – um den BürgerInnen ein bisschen Luxus im Alltag zu zeigen, sehen sie aus wie kleine Paläste. Wirklich spannend fand ich, dass die Petersburger Metro bis zu 86 Meter tief liegt und eine der tiefsten der Welt ist. Um zu einer Haltestelle zu gelangen geht es minutenlang mit der Rolltreppe in die Tiefe. Am größten Umsteigepunkt liegen die Haltestellen auch nicht direkt nebeneinander. Rolltreppe runter, Treppe, Haltestelle, geradeaus, Treppe rauf, Rolltreppe runter, nächste Haltestelle. Für nur 35 Rubel, also etwa 50 Cent kann man in diesem Labyrinth so lange bleiben, wie man will.
Zuhause bei Lannisters
Ein Highlight des Ausflugs war der Palast der Familie Yusupov. Oder wie ich sie nenne: die Lannisters des alten Russlands. Immer nah an der königlichen Familie und unermesslich reich. Die Geschichten unserer Reiseführerin Xenia schreien quasi nach einer Verfilmung. Zum Beispiel liegt auf der Familie angeblich ein Fluch, der bis auf ein Kind in jeder Generation alle jung sterben lässt. Der Bruder des letzten Palastherren starb bei einem Duell um seine Geliebte … seine Mutter wurde damit Opfer ihrer eigenen Intrige, weil sie die Geliebte zwang, einen anderen zu heiraten. Über den anderen Bruder, Felix Yusupov, wird gemutmaßt, ob er bisexuell gewesen sei oder nur eine Vorliebe für Travestie besaß. Er war es auch, der Rasputin, den engsten vetrauten der letzten Zarenfamilie, zu sich einlud. Rasputin überlebte den Besuch nicht, wobei noch einige Fragen zum Mord an ihm ungeklärt sind.
Per Knopf im Ohr konnten wir Xenias Erzählungen selbst in der vollen Metro und in den Museen mitverfolgen. Dank ihr weiß ich jetzt auch, dass St. Petersburg eine sehr junge Stadt ist, gegründet wurde sie vor etwas mehr als 300 Jahren. Im Vergleich zu anderen russischen Städten ist sie sehr europäisch (Von allen Kirchen hatte zum Beispiel nur eine einzige die typischen Zwiebeltürme). Das liegt daran, dass ihr Begründer, der Zar Peter der Große, Europas Stil sehr schätzte und als Architekt Gebäude und Straßen mit entwarf. Um also Russland wirklich kennen zu lernen, war diese Reise nur ein Anfang.