Wenn ich erzähle, dass ich einem estnischen Chor beigetreten bin, ziehen die meisten Leute die falschen Schlüsse. “Oh, du kannst also singen?” Nein, kann ich nicht. Zumindest kann ich nicht richtig Noten lesen und auch keine Tonleitern singen. Und im Texte merken bin ich auch nicht sonderlich gut. Aber ich dachte, das fällt in einem Chor vielleicht weniger auf.
Dass aus der Idee, in den Chor zu gehen, tatsächlich Realität wurde, ist vermutlich eine der mutigsten Entscheidungen meines Lebens. Vor allem will ich herausfinden, ob EstInnen wirklich so viel, gerne und schön singen können und über estnische Texte die Sprache lernen. So weit so gut. Der Gedanke, dafür ein Casting zu überstehen und alleine vorzusingen gefällt mir aber gar nicht. Zum Glück begleitet mich eine Freundin und beim Aufwärmen in der Gruppe klingen unsere Stimmen gar nicht so schlecht. Ich schaffe es “Riiioriiioooriii” in verschiedensten Tonlagen zu singen. Der Chorleiter meint, dass es schwierig für mich werden könnte und ich bin mir nicht sicher, ob er mein geringes Talent oder die Sprachbarriere meint. Ich erzähle, dass ich schon seit einem halben Jahr Estnisch lerne und den Chor auch als Sprachübung sehe. Er freut sich und ich darf beim nächsten Mal wiederkommen.
Geliebtes Vaterland
Vielleicht hat er mich ein wenig zu ernst genommen. Bei der ersten richtigen Chorprobe fällt die Begrüßung noch zweisprachig aus. Dann sieht er mich an. “This will be your lesson in Estonian today.” Seine letzten Worte auf Englisch. Herausforderung angenommen. Meistens genügt es, einfach nachzusingen und ein bisschen auf die Mundbewegungen des Chorleiters zu achten. Ich verstehe, wenn er “Väga hästi” oder “Väga tubli” sagt (Sehr gut, sehr schön), aber seine Kritik verstehe ich nicht. Die Estin neben mir übersetzt das Wichtigste für mich. “That’s fun!”, flüstere ich ihr zu. “That’s easy!”, erwidert sie. Kein Wunder, sie klingt wie eine Opernsängerin. Nach einem lateinischen Studentenlied und einer mittelalterlichen, britischen Ballade, wartet dann endlich ein estnisches Lied auf uns. Als Einzige bekomme ich ein Notenheft in die Hand gedrückt. Meine KommilitonInnen können ihre eigene Nationalhymne schließlich auswändig. Was für ein unwirkliches Gefühl als einzige Ausländerin einen Text über die Schönheit “meines” Vaterlandes mitzuschmettern.
“Ei leia mina iial teal
see suure, laia ilma peal,
mis mul nii armas oleks ka,
kui sa, mu isamaa!”
“Ich finde nichts
auf dieser großen weiten Welt,
was mir so lieb auch wäre,
wie Du, mein Vaterland!”
Zu Hause versuche ich den Text zu lernen, um beim nächsten Mal ein Stückchen mehr dazuzugehören. Viele YouTube Videos später kann ich immerhin zwei von drei Strophen einigermaßen. Der erhoffte Auftritt als Pseudo-Estin bleibt mir leider verwährt. Offenbar ist es nicht nötig, die Nationalhymne noch einmal zu proben, wenn alle sie schon können. Außer mir.
“Those two”
Von unserem ersten Auftritt erfahre ich dank meiner persönlichen Chor-Dolmetscherin drei Tage vorher. Viel Text lernen muss ich nicht mehr. In den beiden ausgewählten Liedern singt unsere Altstimme vor allem “Öhöhöööh, öhöhöööh” und “Tabutabutabutabu”. Für mein Musikgedächtnis wäre es einfacher gewesen, ein wenig Text mit den Tonhöhen verknüpfen zu können. So muss ich mich an den anderen Altstimmen orientieren und kann von Mal zu Mal ein bisschen lauter und mutiger singen.
Gemeinsam mit der zweiten Deutschen im Chor suche ich nach passenden Kleidungsstücken um den Dresscode (Black) zu erfüllen. Klingt elegant. Ist es auch. Wir treten vor einem Kongress der Uni auf. In der riesigen Museumshalle des “Seaplane Harbour”, umgeben von alten U-Booten und Schiffsschrauben. Unsere Bühne ist zwischen edel eingedeckten Tischen und den Relikten eines Schiffwracks aufgebaut. Wirklich integriert sind wir beiden noch nicht in den estnischen Chor. Außer unseren Dolmetscherinnen gibt sich niemand Mühe in der Gruppe auf Englisch zu reden. Ist ihnen die Episode im Gedächtnis geblieben, als wir aus Versehen “Mamma Mia” in Sopran gesungen haben und nicht in Alt? Oder wissen sie gar nicht mehr, dass wir sie nicht verstehen? Wie der Junge, der kurz auf uns zu kommt und etwas auf Estnisch fragt. Als wir ihn verwirrt ansehen, wird er rot und sagt nur: “Ahh, you are those two from the beginning” und dreht sich schnell zu seinen Freunden um.
Ganz kurz vor dem Auftritt habe ich Angst, meine wenigen Silben zu vergessen. Es passiert nicht. Genauso wenig singe ich für alle hörbar einen viel zu lauten falschen Ton. Zwischen den beiden Stücken stimmen sechs KommilitonInnen ein harmonisches A-Capella Lied an. Ich bin mir sicher, dass sie alle schon viele Jahre Gesangsunterricht und Chorerfahrung hinter sich haben. Fast ein Wunder, dass keiner versucht hat, uns aus dem Chor zu schmeißen. Nach dem Singen gibt es für alle Schokokekse mit Marmelade. Die Dirigentin des Chores und die Kommunikationsbeauftragte der Uni(?) überschütten uns mit Lob. Zumindest sieht man ihnen die Freude an, hört es an ihrem Tonfall und ich kann “Hästi, väga hästi” verstehen. Als meine deutsche Freundin zum Ausgang gehen will, sagt die Dirigent zu ihr freundlich “Thank you.” Vielleicht habe ich ja beim nächsten Auftritt die Chance, die Nationalhymne zu singen. Total unpatriotisch natürlich.