Die etwas andere Revolution – laulev revolutsioon

Filmabend an der “Coca-Cola Plaza” für alle Erasmussstudierenden. Es geht um die jüngste estnische Geschichte – das Ende der Sowjetunion und wie es in Estland dazu kam. Bei Revolutionen muss ich an Aufstände denken, an Putschversuche und mutige IdealistInnen. Nicht ans Singen.

Schon in den ersten Minuten des Films bekomme ich eine Gänsehaut. Es werden Aufnahmen vom Laulupidu gezeigt, dem traditionellen Sängerfest der EstInnen. Alle fünf Jahre treffen sich hier Zehntausende, um gemeinsam Volkslieder zu singen. Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung kommt hier regelmäßig zusammen. Die Bilder sind eindrucksvoll, die vielen Stimmen verschmelzen zu einer und strahlen Freude, Kraft und ein starkes Gemeinschaftsgefühl aus.

Während der Sowjetzeit fand das Laulupidu zwar statt, diente aber als Ort für Propagandalieder und Lenin-Hymnen. Schwer vorzustellen, wie es 1947 gelang “Mu isamaa on minu arm” – ein estnisches, patriotisches Lied in diese “Playlist” zu schmuggeln. Fünf Jahre später durfte es nicht mehr gesungen zu werden, aber wer kann eine riesige Menschenmenge davon abhalten spontan ein Lied zu singen, wer kann sie bestrafen.

Friedlich zur Freiheit

Bei späteren Protesten spielte Singen immer wieder eine entscheidende, verbindende Rolle. Mehr und mehr patriotische Lieder und eigentlich verbotene blau-schwarz-weiße Flaggen tauchten auf.

Nicht alle unterstützten diese Proteste und die zunehmende Freiheit Estlands. Ein Teil der russischen Bevölkerung vereinte sich zur “Interfront”. Während einer Massenkundgebung im Jahr 1990 begann diese Gruppe das Parlament zu attackieren, drohte es einzunehmen. Dem Hilferuf des Präsidenten via Radio folgten zahlreiche EstInnen, die die russischen Protestierenden im Innenhof des Parlamentsgebäudes einschlossen. An dieser Stelle hätte es blutig, zumindest gewalttätig werden können. Zwei gegnerische Massen trafen so dich aufeinander. Doch die EstInnen bewahrten die Ruhe und bildeten eine Gasse für ihre Kontrahenten. Vollkommen gewaltfrei.

Am Ende des Films kann ich Estland ein bisschen besser verstehen. Und es wartet noch eine Überraschung auf uns. Zwei Zeitzeugen, das Ehepaar Anne und Toomas Raudberg haben an den gesungenen Protesten teilgenommen und wurden auch im Film interviewt. Von den Versammlungen haben sie vor allem von Freunden erfahren, über offizielle Kanäle wäre die Organisation nicht möglich gewesen. “Habt ihr die Autos, die Häuser, die Menschen, die Straßen gesehen? Heute ist alles besser!”, erklärt Toomas Raudberg voller Stolz. Jemand fragt, wie heute das Zusammenleben mit der russischen Minderheit funktioniert. “Natürlich gibt es die, die Böses getan haben. Aber das ist wie mit den Terroristen. Das kann man nicht auf eine ganze Bevölkerung übertragen.” Zustimmender Applauss. Vieles hat sich seit der Revolution geändert, auch für die Familie Raudberg. Das Singen hat für sie seine Bedeutung behalten.

Und so sieht das Sängerfest heute aus: