Mein erstes typisch estnisches Accesoire ist weder ein gestrickter Pullover mit Muster, noch ein Paar warme Winterstiefel. Es ist ein kleiner, runder Reflektor, der mit einem Band an meiner Jacke befestigt ist und beim Laufen fröhlich auf und ab schwingt. Ein bisschen fühle ich mich damit wie ein Kindergartenkind, das noch nicht selbst auf die Autos achten kann. Aber wenn ich im Dunkeln ohne den Reflektor von der Polizei angehalten werde, kann mich das schnell 40€ kosten.
Es sind auf den ersten Blick Kleinigkeiten, aber schon nach einer Woche bin ich sicher, dass die EstInnen ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben. Es fängt mit meinen Unikursen an. Ich kann mich für “Nordic Baltic Security”, “International Energy Security” oder “Asia-Pacific Security Architecture” eintragen lassen. Gut die Hälfte der Kurse trägt “Security” im Namen.
Während der Orientierungswoche geben uns zwei Polizistinnen Sicherheitstipps für unseren Aufenthalt in Tallinn. Die meisten sind wenig überraschend für eine Stadt, einen Touristenmagneten wie Tallinn. Seid nachts im Dunkeln nie alleine unterwegs. Seid auf Plätzen mit großen Menschenmengen aufmerksam. Doch allein die Tatsache, dass auf diesen Vortrag so viel Wert gelegt wird, lässt einige StudentInnen aufhorchen. Müssen wir uns Sorgen machen? Ist es in Tallinn gefährlich? Die Polizistinnen geben zu, dass es die meiste Zeit hier sehr friedlich ist. Und selbst vor Diebstählen bräuchten wir keine all zu große Angst haben. “Even if they steal something from you, they won’t attack. Estonians are quiet people. They don’t want to soicalise with you!” In den Genuss einer Unterhaltung mit einem estnischen Taschendieb werde ich also nicht kommen. Die Polizistinnen zeigen ein Überwachungsvideo aus der Altstadt, in dem ein Mann von zwei Trickbetrügerinnen ausgenommen wird. Sie erzählen, dass sie die beiden direkt festnehmen konnten, weil ein Polizist die Tat über Kameras live beobachtet hat.
Prädikat “Besonders sicher”
Auch ich kann meinen persönlichen Rundumschutz genießen. In einem Vortrag werden die Wohnheime vorgestellt. Während das eine für seine Nähe zur Universität gepriesen wird, muss sich meines mit dem Prädikat “besonders sicher” zufrieden geben. Kein Wunder: Mein Vermieter ist eine Firma für Sicherheitsbedarf und Überwachungstechnik. Das Logo finde ich auf gefühlt jeder zweiten Tür in der Innenstadt. Unten an der Rezeption unseres Wohnheims sitzt über Nacht jeweils ein Wachmann. Über die vielen Kameras auf dem Bildschirm vor sich kann er das Treiben auf den Gängen verfolgen, beobachten, wer wen besucht und wann nach Hause kommt. Wenn er nicht gerade dabei einschläft.
Bis gestern habe ich mir darüber wenig Gedanken gedacht. Dann hat meine Mitbewohnerin den Manager des Wohnheims getroffen. Er war verärgert, dass sie ihren Mietvertrag bei ihm noch nicht unterschrieben hatte. Sie erklärte ihm, dass sie in den letzten Tagen früh zur Uni fahren musste und deswegen keine Zeit dazu hatte. Das ließ er aber nicht durchgehen. Schließlich hatte er gesehen, dass sie zwei Tage zuvor erst spät das Haus verlassen hatte. Auf seinen Kameras. Dass er sich daran erinnern konnte, obwohl wir mit vermutlich fast 200 Leuten dieses Wohnheim teilen, gibt mir dann doch zu denken.
Vor was oder wem werden wir hier eigentlich beschützt? Vor uns selbst? Ein Stück meiner Freiheit habe ich offenbar eingebüßt, um in dieses sichere Wohnheim zu ziehen. Ich bin nicht sicher, ob es ein guter Deal war.