“Tartu ist im Sommer viel schöner!” Das musste ich mir beim Spaziergang durch die zweitgrößte Stadt Estlands sehr oft anhören. Aber ich bin mir sicher, dass es stimmt. Im Sommer stehen auf den Plätzen vor den Cafés Tische und Stühle voller StudentInnen. Im Sommer kann man im Botanischen Garten nicht nur Bäume und Skulpturen bewundern. Und im Sommer zeigt der gelbe Rahmen auf dem Rathausplatz tatsächlich einen schönen Ausblick und keinen riesigen Matschschneehügel, hinter dem ein Tannenwald aufgebaut wird, der mal der Weihnachtsmarkt werden soll.
Aber Tartu ist auch im Winter genauso niedlich wie der Name klingt. Früher hieß es mal “Dorpat” oder auf Deutsch “Dörpt”. Wer auch immer sich diesen Namen ausgedacht hat, hat die Stadt wahrscheinlich nie gesehen oder ungerechtfertigt sehr gehasst. Vor meinem Besuch habe ich mir die Stadt ein bisschen wie Göttingen vorgestellt. Vielleicht liegt es daran, dass Caro, die ich besuche, in Deutschland auch in Göttingen studiert. Es gibt aber auch Parallelelen. “Ich zeig dir die Uni und die schönsten Cafés. Und die Uni, wenn du möchtest”, hat sie angekündigt. Ich war verwirrt. Meinte sie wirklich zweimal die Uni oder einmal die Stadt? “Die Uni ist eigentlich die Stadt”, kam als Antwort zurück. Tartu ist dazu noch etwas kleiner als Göttingen:
Von Caros Wohnheim braucht man fünf Minuten über den Fluss Emajõgi bis zur Innenstadt voller Bauwerke aus dem Klassizismus. Und in noch einmal fünf Minuten ist man am Hauptgebäude der Uni. Die restlichen Fakultäten sind weiter über die Stadt verteilt.
Überraschenderweise werden wir in einer Bar und einem Café in fließendem Deutsch angesprochen. Die Bedienungen kennen Caro schon – da die Uni keine Mensa hat, bieten Restaurants und Cafés in der Innenstadt günstige Mittagsmenüs für StudentInnen an. Ein Traum. Noch mehr Deutsch: Cafés namens Werner und Krempel. Und Caro schätzt, dass 90% der Erasmusmenschen Deutsche sind. Für mich schwer vorzustellen. Ich fühle mich schon in Tallinn immer etwas ertappt, wenn jemand Fremdes sofort errät, dass ich aus Deutschland komme.
Wo könnte man sich am besten wieder daran erinnern, in welchem Land wir sind? Im estnischen Nationalmuseum. Nach “107 Jahren in Arbeit und 10 Jahren Bauzeit” ist das Museum gerade erst seit einem Monat geöffnet. Das merkt man auch der Ausstellung an: Die Architektur ist sehr modern, alles ein bisschen interaktiv und sehr kreativ. Die Infotexte stehen jeweils auf E-Bookreadern, deren Sprache man mit einem Chip ändern kann. Man kann sich anhören, wie estnische Wörter im Vergleich zu ihren finno-ugrischen Verwandten ausgesprochen werden, in Räume aus den 60er Jahren eintauchen, das Frühstück der Sami auf einem Touchscreen erkunden. Die Gesichte Estlands kann man wie auf einem Zeitstrahl ablaufen. Und ganz am Anfang – oder am Ende – steht kurioserweise der Bürostuhl des Skypeerfinders. Weniger langweilig als es sich anhört (es sind zwei riesige Löcher von seinen Füßen auf der Sitzfläche), aber sehr typisch estnischer Stolz. Auf der Liste meiner Lieblingsgebäude (Kategorie moderne Architektur), landet das Museum auf dem dritten Platz nach der lettischen Nationalbibliothek und der Oper in Oslo. Fotos davon gibt es hier: http://www.erm.ee/en/content/estonian-national-museum-gallery
Nach eineinhalb Tagen im Süden Estlands brauche ich mit dem Fernbus auch nur zweieinhalb Stunden zurück nach Hause in den Norden. Ich stelle mir vor, wie es wäre in Tartu zu studieren. Es würde mir gut gefallen. Besonders das Essen.